Titel: Die stille Entscheidung – Eine moralische Notwendigkeit oder ein gesellschaftliches Tabu?
In der heutigen Zeit, in der soziale Medien und eine hochmoderne Informationsgesellschaft den Diskurs prägen, ist es fast schon ein Widerspruch, dass das Thema „stille Entscheidung“ – also die Entscheidung, aktiv nicht mehr am Leben teilzunehmen oder für sich selbst zu entscheiden, welche therapeutischen Maßnahmen man in einer schweren Krankheit in Anspruch nehmen möchte – nach wie vor von einem Stigma umgeben ist. Was könnte die Gründe sein? Ist es die Angst vor der eigenen Sterblichkeit, die in unserer Gesellschaft oft tabuisiert wird, oder ist es das Unverständnis für die individuellen Beweggründe, die zu einer solchen Entscheidung führen können? In jedem Fall liegt hier eine moralische und gesellschaftliche Verantwortung vor uns, die wir nicht länger ignorieren dürfen. Mein Standpunkt ist klar: Die stille Entscheidung sollte nicht nur gesellschaftlich anerkannt, sondern auch als würdevoller Weg in besonderen Lebenssituationen gefördert werden.
Zunächst einmal müssen wir klären, was wir unter einer „stillen Entscheidung“ verstehen. Es handelt sich dabei um einen Prozess, bei dem Individuen in Anbetracht ihrer Lebenssituation und gesundheitlichen Lage auf die Inanspruchnahme medizinischer Behandlungen verzichten. Diese Entscheidung kann aus persönlicher Überzeugung, aus Ermüdung oder aufgrund einer unheilbaren Erkrankung getroffen werden. In der Medizin spricht man in diesem Kontext häufig auch von der Patientenedukation: Menschen sollen befähigt werden, informierte Entscheidungen über ihre Gesundheitsversorgung zu treffen. Aber wo bleibt der Raum für die stille Entscheidung? Wo bleibt der Respekt vor der Wahl, das eigene Leben und Sterben nach den individuellen Wünschen zu gestalten?
Ein zentrales Argument für die Anerkennung der stillen Entscheidung ist die Autonomie des Einzelnen. In einer liberalen Gesellschaft sollte es niemandem verwehrt werden, selbstbestimmt zu leben und zu sterben. Die Menschen haben ein Recht darauf, ihre Werte und Überzeugungen zu leben, auch hinsichtlich ihrer Todesart und der Art der medizinischen Interventionen. Ein Beispiel, das dies verdeutlicht, ist die Debatte um die Triage während der COVID-19-Pandemie. In vielen Ländern standen Ärzte und Pflegepersonal vor der Entscheidung, welche Patienten priorisiert behandelt werden sollen. In dieser kritischen Situation wurde verstärkt der Wunsch nach der Möglichkeit geäußert, eine stille Entscheidung zu treffen – die Entscheidung, in Würde zu sterben, ohne unnötige Belastungen für sich selbst oder andere zu verursachen. Autonomie bedeutet nicht nur, leben zu wollen, sondern auch im Falle schwerer Erkrankungen zu bestimmen, wie weit man bereit ist, für das eigene Überleben zu kämpfen.
Ein weiteres bedeutendes Argument ist die psychische Gesundheit. Studien zeigen einen direkten Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Selbstbestimmung und einem höheren Wohlbefinden. Menschen, die in einem klaren Wissen um ihre Entscheidung leben, ob sie medizinische Behandlungen in Anspruch nehmen oder nicht, berichten von weniger Angst und einer höheren Lebensqualität, auch in schwerwiegenden gesundheitlichen Situationen. Daher ist es von essenzieller Bedeutung, den Menschen die Möglichkeit zu geben, eine stille Entscheidung zu treffen. Eine solche Entscheidung kann zudem als ein Akt der Selbstfürsorge wahrgenommen werden, der die psychische Belastung von Patienten und Angehörigen reduziert. Die Förderung dieser Entscheidungen erfordert jedoch eine offene und ehrliche Diskussion über den Tod und die verschiedenen Wege, die Menschen wählen können, um mit schwerer Krankheit und dem Lebensende umzugehen.
Drittens ist der gesellschaftliche Diskurs über die stille Entscheidung wichtig, um Missverständnisse und Vorurteile abzubauen. Es ist an der Zeit, die Stigmatisierung zu überwinden, die oft im Rahmen von Gesprächen über das Lebensende entsteht. Die Berichterstattung über Sterbebegleitung, Palliativmedizin und die Möglichkeit, die eigene Behandlung selbst zu wählen, muss in den Medien aufgegriffen und sensibel sowie umfassend geführt werden. Die Öffentlichkeit sollte dazu ermutigt werden, diese Themen offen zu diskutieren, ohne sofort in eine defensiv-aggressive Haltung zu verfallen. Ein gelungenes Beispiel ist die Bewegung der Hospiz- und Palliativkultur, die sich aktiv für die Rechte von Menschen in der letzten Lebensphase einsetzt und das Bewusstsein dafür schärft, dass das Sterben nicht mit Scham behaftet sein sollte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die stille Entscheidung sich nicht nur als ein persönliches Erlebnis im Leben eines Individuums darstellt, sondern auch ein gesellschaftlicher Imperativ ist, der die Grundwerte einer humanen Gesellschaft reflektiert. Die Stärkung der Autonomie, die Verbesserung der psychischen Gesundheit und die Notwendigkeit eines offenen Dialogs sind entscheidende Schritte in die richtige Richtung. Es liegt an uns, als Gesellschaft, diesen Weg zu beschreiten, um sicherzustellen, dass alle Menschen die Würde und den Respekt erhalten, den sie verdienen, wenn sie die schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens treffen. Es ist an der Zeit, das Tabu zu brechen und der stillen Entscheidung den Raum zu geben, den sie benötigt – einer Entscheidung im Sinne der menschlichen Würde.